Scholz‘ Wahl-Zauberformel. Das Narrativ des Kriegsverhinderers soll die Schwäche der Ampel überdecken.

Es läuft nicht gut für die deutsche Wirtschaft. Laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) wächst sie in diesem Jahr gerade mal um 0,2 Prozent – das ist der letzte Platz unter den führenden westlichen Industrienationen (G7). Dazu passen Horror-Nachrichten für den Standort Deutschland. Der Hausgeräte-Hersteller Miele verlagert einen Teil seiner Produktion nach Polen. Die Firma Stihl, Weltmarktführer bei Motorsägen, erwägt den Bau eines Werks im Hochlohnland Schweiz. Begründung: Trotz der hohen Personalausgaben seien die Kosten unter dem Strich geringer als in Deutschland, wo hohe Energiepreise und Steuern auf die Bilanzen drücken.  

Hinzu kommt, dass die Rekrutierung von Fachkräften im großen Stil verschlafen wurde. Die Überalterung der Gesellschaft und der Renteneintritt der Baby-Boomer sind so berechenbar wie das nächste Weihnachtsfest – doch die Politik hat alles auf die lange Bank geschoben.

Die Wirtschaft geht mit der Ampelkoalition hart ins Gericht. „Es waren zwei verlorene Jahre – auch wenn manche Weichen schon in der Zeit davor falsch gestellt wurden“, kritisierte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm. Es nützt jedoch wenig, auf die Defizite der Vorgänger-Regierung zu verweisen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gelang es, die Republik 16 Jahre lang mit einer Schein-Stabilität zu sedieren. „Keine Zumutungen – wir regeln das schon“, lautete ihre Devise. Während sich der Mehltau des Stillstandes über das Land legte, wurden Investitionen in die Digitalisierung, die Bahn oder in den Ausbau der Kita-Plätze verschlafen.              

Scholz versucht nun, den gigantischen Reformstau mit symbolpolitischen Maßnahmen schönzureden. Doch die milliardenschweren Subventionen für die Ansiedlung von Chip-Fabriken in Magdeburg oder in Dresden können die strukturellen Mängel in der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung nicht überdecken.   

Zugegeben: Der Kanzler steckt im Korsett eines rot-gelb-grünen Kabinetts, das sich als zerstrittener Debattier-Club entpuppt hat. Während die FDP eine „Wirtschaftswende“ fordert und Arbeitsverweigerern das Bürgergeld kürzen will, legt sich die SPD als Besitzstandswahrerin sozialpolitischer Leistungen quer. Die Liberalen wiederum verteidigen die Schuldenbremse, die Sozialdemokraten und Grüne lockern wollen.

Scholz weiß, dass er in dieser Konstellation politisch nicht mehr viel reißen kann. Deshalb positioniert er sich bereits heute – vor der Europawahl im Juni, den drei Landtagswahlen in Ostdeutschland im September und der Bundestagswahl in knapp 17 Monaten – mit einem alles überwölbenden Narrativ: Er will als Kriegsverhinderungskanzler der schwächelnden SPD neues Leben einhauchen.         

Viele Bundesbürger befürchten, dass sich Russlands brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine auf Deutschland ausweiten könnte. Scholz präsentiert sich als Sicherheitsanker, der in turbulenten Zeiten Maß und Mitte hält. Er baut auf eine Wahl-Zauberformel, die die Menschen beruhigen soll. Der Kanzler hat „Besonnenheit“ zu seinem politischen Markenkern erhoben, der Risiken minimieren soll.

Sein Kernargument: Deutschland liefert der Ukraine nicht die gewünschten Taurus-Marschflugkörper, weil diese eine Reichweite von mehr als 500 Kilometern haben und damit theoretisch auch Moskau treffen könnten. Zudem seien zur Zielprogrammierung Bundeswehrsoldaten nötig, was Deutschland zur Kriegspartei machen würde.

Die Begründung ist nicht stichhaltig. Die Ukraine hat sich bislang strikt an die Vorgaben gehalten, russisches Territorium nicht mit westlichen Waffen anzugreifen. Zudem verschicken die Amerikaner neuerdings ATACMS-Raketen mit 300 Kilometern Reichweite in die Ukraine, weil sie keine Eskalationsgefahr befürchten. Der Kanzler, der sich lange hinter der Zurückhaltung der USA versteckt hatte, bleibt trotzdem beim Nein zu Taurus.

Scholz vollführt einen äußerst heiklen Balanceakt. Er verspricht den Bundesbürgern einerseits, Deutschland aus dem Krieg herauszuhalten. Andererseits klopft er sich immer wieder auf die Schulter, dass die Bundesrepublik hinter Amerika der zweitgrößte Waffenlieferant der Ukraine sei. Es ist der Versuch einer Quadratur des Kreises. Ob sich dieser Kurs bei den Wahlen auszahlt, ist völlig offen.  

Die Allianz gegen den Westen. Die Kriege und Krisen in der Ukraine, in Nahost und Ostasien hängen zusammen.

Das 61-Milliarden-Dollar-Hilfspaket der Amerikaner für Kiew könnte die Dynamik des Ukraine-Krieges drehen – zumindest vorläufig. Die Ukraine war aufgrund von fehlender Luftabwehr und abgebrannten Munitionsbeständen den massiven russischen Angriffen zuletzt fast schutzlos ausgeliefert. Die vom US-Kongress gebilligte Finanzspitze kann nun die Widerstandskraft des Landes entscheidend erhöhen.

Der Ukraine-Krieg vor den Toren der Europäischen Union ist jedoch kein rein regionaler Waffengang. Er ist mit zwei weiteren Krisenzonen verbunden: mit dem Konflikt zwischen Israel und dem Iran sowie mit den zunehmenden Spannungen in Ostasien rund um Chinas wachsenden Machtansprach. Die Kriege und Krisen stehen in Wechselwirkung.     

So wird Russland im Ukraine-Krieg von einer Achse der Autokraten gestützt, die vom Iran über die Volksrepublik bis nach Nordkorea reicht. Nach Angaben westlicher Sicherheitskreise hat Russland 1500 Kampfdrohnen sowie mehrere Hundert ballistische Raketen iranischer Bauart gegen die Ukraine eingesetzt. Die Kamikaze-Drohnen können in Schwärmen angreifen und sollen die Luftverteidigungssysteme der Ukraine verschleißen.  

Der Iran erhält im Gegenzug militärisches Knowhow und Rüstungsgüter aus Moskau. Teheran hatte im November von Russland SU-35 Kampfjets und Mi-28H Kampfhubschrauber gekauft. Eine erste Lieferung soll angeblich bevorstehen, was jedoch durch iranische Medien zunächst dementiert wurde.

Große Sorge bereitet dem Westen Chinas Unterstützung für Russland. Offiziell erklärt sich die Volksrepublik zwar als neutral. De facto hat Peking aber die russische Invasion in die Ukraine nie verurteilt und spricht vielmehr von einer „felsenfesten Beziehung“ zu Moskau.

Tatsache ist: Seit Beginn des Ukraine-Krieges hat sich der wirtschaftliche Austausch und die strategische Partnerschaft zwischen beiden Ländern vertieft. Die Volksrepublik bezieht vor allem billiges Öl aus Russland. Die Amerikaner und Europäer befürchten, dass China im großen Stil Dual-Use-Güter an Russland verschickt – also Waren, die sowohl zivil als auch militärisch verwendet werden können, zum Beispiel Halbleiter. Peking sei der Hauptlieferant von Komponenten der russischen Rüstungsindustrie, warnte US-Außenminister Antony Blinken.

China hat zweifellos ein Interesse daran, dass der Westen seine Energien durch die Unterstützung der Ukraine erschöpft. Sollte Kremlchef Wladimir Putin mit seinem Einmarsch in die Ukraine durchkommen, sähe Peking darin eine Blaupause für eine „friedliche Wiedervereinigung“ mit dem demokratischen Inselstaat Taiwan. Seit Jahren reklamiert die Volksrepublik die rohstoffreichen Gewässer des Südchinesischen Meers immer aggressiver für sich. Das Militärbündnis zwischen den USA, Australien und Großbritannien im Pazifik (AUKUS) wird als feindliche Allianz deklariert.

Auch Nordkorea flankiert Putins Krieg gegen die Ukraine. Nach Angaben des südkoreanischen Geheimdienstes schickt Diktator Kim Jong-un Munition und Kurzstreckenraketen nach Russland und bekommt dafür Öl.

Die Achse der Autokraten zwischen Russland, dem Iran, China und Nordkorea ist nicht nur ein Zweckbündnis zur Verfolgung eigener Interessen. Dahinter steckt ein ideologisches Bündnis zur Neuordnung der Welt. Der gemeinsame Feind ist der Westen rund um die Führungsnacht Amerika. Es ist eine breite Ablehnungs-Front gegen Demokratie, Marktwirtschaft, Regeln des Völkerrechts sowie Menschenrechte.  

Russland sieht sich in der Ukraine im Krieg mit den Vereinigten Staaten und der Nato. Das Mullah-Regime kämpft im Nahen Osten gegen den „großen Satan“ (USA) und den „kleinen Satan“ (Israel). China betrachtet Amerika und die Nato als Eindringlinge in die selbst beanspruchte Machtsphäre Indo-Pazifik. Nordkorea wittert eine weltweite Verschwörung gegen sich, die angeblich vom XXL-Drahtzieher Washington orchestriert wird.

Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler wertet die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten als Übergangsphase zu einer neuen Weltordnung mit mehreren Machtzentren. Die Zeit der USA als Ordnungsmacht gehe ihrem Ende entgegen. Wenn Europa in dieser geopolitischen Transformation nicht nur Zaungast sein will, muss es sich mental, wirtschaftlich und militärisch neu aufstellen. Die Zeit drängt.

Biden sitzt in der Gaza-Falle. Der US-Präsident erhöht den Druck auf Israel, doch seine Kritik hat Grenzen.

Der amerikanische Präsident Joe Biden rühmt sich gern, ein Freund Israels zu sein. Es ist eine Konstante in seinem politischen Leben, seit er 1973 erstmals in den US-Senat gewählt wurde. Die Sympathie und Unterstützung für Israel spiegeln sich seit Jahrzehnten in der großen Mehrheit der amerikanischen Gesellschaft wider.    

Doch Israels massiver Zerstörungskrieg im Gazastreifen hat in Washington zu einem Paradigmenwechsel geführt. Die Fernsehbilder von plattgebombten Städten und von mehr als zwei Millionen Palästinensern, die unter einem eklatanten Mangel an Nahrungsmitteln, Medikamenten und Benzin leiden, zeigen Wirkung.

Biden rügt die israelische Regierung in einer Weise, wie dies noch nie ein amerikanischer Präsident getan hat. Premierminister Benjamin Netanjahu „schadet Israel mehr, als er Israel hilft“, wetterte Biden in einem TV-Interview. „Er muss den unschuldigen Menschenleben mehr Aufmerksamkeit schenken, die verloren gehen.“ Der Feldzug gegen die islamistische Terrororganisation Hamas sei gerechtfertigt, doch die Umsetzung des Zieles mit bislang mehr als 31.000 Toten sei ein „schwerer Fehler“, fügte er hinzu. 

Nach den Anschlägen der Hamas am 7. Oktober hatte es Biden noch mit einem Mix aus Empathie und sanften Ermahnungen versucht. Die Wut, die Israel nach dem Massaker erfülle, sei „die gleiche, die die Vereinigten Staaten nach dem 11. September empfanden“, sagte der Präsident bei einem Besuch in Israel wenige Tage nach den Hamas-Attacken. „Während wir Gerechtigkeit gesucht und Gerechtigkeit erhalten haben, haben wir auch Fehler begangen.“ Biden verwies damit auf die verheerenden Kriege in Afghanistan und im Irak.

Doch die Appelle verhallten. Bei seiner Israel-Visite stellte Biden gegenüber Netanjahus Sicherheitskabinett die Frage: „Wie sieht euer Plan für Tag eins nach dem Krieg aus?“ Die Antwort war nach Angaben von Teilnehmern eisiges Schweigen. Israels Premier hat keinen Nachkriegs-Plan. Er setzt auf die Tötung der Hamas-Führung und die Zerstörung ihres terroristischen Netzwerks, auch wenn dabei viele Tausend Zivilisten getötet werden.

Israel ist noch immer der wichtigste Verbündete der USA im Nahen Osten. Doch Bidens Ziel-Matrix ist eine völlig andere als die Netanjahus. Der Amerikaner setzt auf einen großen Deal – Freilassung der Geiseln gegen Freilassung von palästinensischen Gefangenen in Israel – und eine sechswöchige Feuerpause. Langfristig strebt er eine Zwei-Staaten-Lösung an. Für Netanjahu wäre eine Waffenruhe ein Sieg der Hamas, die sich danach wieder für neue Attacken gegen Israel rüsten könnte. Die Idee eines Palästinenserstaates weist er brüsk zurück.

Die verschärfte Tonlage Bidens hat zwei Gründe. Zum einen ist der Präsident zunehmend frustriert über die betonharte Unnachgiebigkeit des israelischen Regierungschefs. Um wenigstens die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen etwas zu lindern, bauen die Amerikaner nun einen Nothafen, der die vom Hunger bedrohte Bevölkerung mit Hilfsgütern versorgen soll.

Biden will Handlungsstärke demonstrieren – aber es ist auch ein Akt der Verzweiflung. Er fühlt sich verpflichtet, Netanjahu an die Kandare zu nehmen, weil er im Jahr der US-Präsidentschaftswahl politisch unter Druck steht. Wichtige Teile seiner Anhängerschaft, die ihm 2020 den Sieg über Donald Trump beschert hatten, werfen ihm heute eine zu lasche Haltung gegenüber Israel vor.

Vor allem der linke Parteiflügel der Demokraten, Jugendliche sowie muslimische Wähler fordern energische Maßnahmen, um den Bombenhagel auf Gaza zu stoppen. Bei den Vorwahlen in den Bundesstaaten Michigan und Minnesota – beides wichtige Swing States – ließen diese Gruppen bereits ihre Muskeln spielen und verpassten Biden einen Dämpfer. Die Botschaft: Ohne Kurskorrektur könnten dem Amtsinhaber bei der Wahl im November entscheidende Stimmen fehlen.

Doch der Präsident ist sich bewusst, dass er den Bogen nicht überspannen darf. Würde er die Militärhilfe für Israel in Höhe von rund neun Milliarden Dollar pro Jahr kappen, bekäme er zwar von vielen Demokraten Beifall. Doch gleichzeitig könnte dies etliche Gemäßigte und unabhängige Wähler verschrecken. Sein Konkurrent Donald Trump würde ihn als „Israel-Verräter“ brandmarken und möglicherweise profitieren. Biden sitzt in der Gaza-Falle.

Gefährliches Kalkül. Olaf Scholz will als „Friedenskanzler“ punkten – und riskiert Kollateralschäden.

Wer Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in diesen Tagen beobachtet, fühlt sich an seinen Vorvorgänger Gerhard Schröder erinnert. Der Sozialdemokrat ging im Bundestagswahljahr 2002 durch schwere politische Wetter. Seine Partei lag in den Meinungsumfragen bis wenige Wochen vor dem Urnengang am 22. September weit hinter der Union.

Doch Schröder kämpfte und setzte voll auf das Narrativ des „Friedenskanzlers“. Er stellte sich demonstrativ gegen die Kriegstrommeln von US-Präsident George W. Bush, der eine Militäraktion gegen den Irak vorbereitete. Die Pazifismus-Taktik zahlte sich aus – die SPD holte auf und gewann die Bundestagswahl mit äußerst knappem Vorsprung vor der CDU/CSU.

Auch Scholz versucht derzeit, als „Friedenskanzler“ politisch zu punkten. Hintergrund ist der dramatische Absturz der Sozialdemokraten in den Umfragen, die aktuell bei nur 15 Prozent liegen. Die häufigen Querelen innerhalb der Ampelkoalition haben Scholz das Image des handlungsschwachen Moderators eingebracht, der die Dinge zu sehr hat laufen lassen. Die SPD geht mit starkem Gegenwind in die Europawahlen im Juni sowie in die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September – ein Jahr vor der Bundestagswahl.    

Der Kanzler hat nun auf Offensive umgeschaltet. Nachdem er sich lange Zeit über die Gründe für sein Nein zur Lieferung der Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine ausgeschwiegen hatte, spricht er nun überraschend Klartext. Scholz unterstellt, dass die Ukraine die Waffe für Angriffe auf russisches Territorium benutzen könnte.

Das ist eine Misstrauenserklärung gegen die Regierung in Kiew. Diese hat bislang keine Waffen aus dem Westen für Attacken auf russische Ziele eingesetzt. Doch der Kanzler nimmt den politischen Kollateralschaden in Kauf, um sich als besonnener Staatenlenker zu profilieren, der sein Land aus dem Krieg heraushält.

Scholz scheint zumindest zum Teil die Fakten zu verzerren. Nach Angaben des Taurus-Herstellers sind keine deutschen Soldaten für den Einsatz des Marschflugkörpers nötig, weder auf ukrainischem Boden noch sonst irgendwo. Hochrangige Offiziere der Luftwaffe argumentierten ebenfalls, dass für den Taurus-Betrieb in der Ukraine zumindest auf längere Sicht keine Bundeswehrkräfte nötig seien. Dies ergab der Mitschnitt eines internen Gesprächs, der auf der russischen Plattform „Russia Today“ veröffentlicht wurde. Eine Cyber-Attacke Moskaus, die Scholz düpieren und die Gesellschaft in Deutschland spalten soll.

Der Kanzler schreckt nicht einmal davor zurück, den politischen Führungen in Großbritannien und Frankreich an den Karren zu fahren. Beide Länder schicken Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow beziehungsweise Scalp in die Ukraine. „Und das, was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden“, verteidigt sich Scholz.

Damit legt der Kanzler nahe, dass Briten und Franzosen aktiv am Kriegsgeschehen on der Ukraine beteiligt sind – beide hatten sich hierzu aus Geheimhaltungsgründen nicht geäußert. Es ist eine offene Brüskierung von Nato-Verbündeten, die Scholz aus wahltaktischen Motiven riskiert. Das Image des nüchtern abwägenden Regierungschefs, der Eskalations-Szenarien meidet, geht ihm über alles. „Wir werden nicht zur Kriegspartei – weder direkt noch indirekt“, lautet sein Mantra. Scholz gibt den Anwalt derjenigen, die Angst vor einem Krieg haben.

Der Kanzler scheut sogar nicht davor zurück, sich auf offener Bühne mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu zoffen. Macrons Vorstoß, der Westen solle die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine zumindest nicht ausschließen, instrumentalisiert Scholz, um sich als Kriegsverhinderungskanzler dazustellen. „Um es klipp und klar zu sagen: Als deutscher Bundeskanzler werde ich keine Soldaten unserer Bundeswehr in die Ukraine entsenden“, tönt er Richtung Paris.

Meinungsverschiedenheiten unter Verbündeten müssen in Zeiten des russischen Angriffskrieges diplomatisch hinter verschlossenen Türen beigelegt werden. Geschlossenheit ist das Gebot der Stunde. Mit ihren politischen Hahnenkämpfen schaden Scholz und Macron Europa. Jeder Riss, der durch den Kontinent geht, nutzt nur einem: dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Im Schattenkrieg der Mullahs. Die EU-Marine-Mission im Roten Meer ist defensiv angelegt und dennoch riskant.

Es ist die gefährlichste Mission der Deutschen Marine seit Jahrzehnten. Am vergangenen Freitag gab der Bundestag grünes Licht für die Entsendung der Fregatte „Hessen“ ins Rote Meer. Sie ist Teil der EU-Militäraktion „Aspides“.  Vorrangiges Ziel ist der Schutz europäischer Handelsschiffe vor Angriffen der schiitischen Huthi-Milizen im arabischen Bürgerkriegsland Jemen. Diese attackieren Handelsschiffe im Roten Meer, denen sie eine Nähe zu Israel vorwerfen. Sie wollen damit ein Ende des israelischen Militäreinsatzes im Gazastreifen erzwingen.

Die Bundesmarine stellt sich nach eigenen Angaben auf Angriffe mit Raketen, Drohnen und „Kamikaze-Booten“ ein. „Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass auch wir als Ziel betrachtet werden“, sagte der Kommandant der „Hessen“, Fregattenkapitän Volker Kübsch. Zu Beginn vergangener Woche besuchte Verteidigungsminister Boris Pistorius die Besatzung des Kriegsschiffs, das vor der griechischen Insel Kreta ankerte. Von dort aus machte sich die „Hessen“ mit 240 Soldatinnen und Soldaten an Bord auf den Weg ins Rote Meer.    

Die Region ist eine neuralgische Zone der globalen Wirtschaft. Zwölf Prozent des Welthandels verlaufen durch das Rote Meer. Viele internationalen Reedereien wie Maersk oder Hapag-Lloyd haben ihre Routen zwischen Europa und Asien bereits umgeleitet. Die Strecken führen nun am Kap der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas vorbei. Die Güter-Transporte dauern so rund zwei Wochen länger, was die Lieferungen deutlich teurer macht. Die Auswirkungen des Krieges im Nahen Osten reichen somit bis in die Supermarktregale bei uns.      

Gestützt werden die Huthis vom schiitischen Mullah-Regime in Teheran. Sie besitzen iranische Waffensysteme neuester Bauart. Die Zahl ihrer Kämpfer wird auf 10.000 bis 30.000 geschätzt. Nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel vom 7. Oktober wurden die Huthis zu einer der militantesten Kriegsparteien aufseiten der islamistischen Palästinenser im Gazastreifen.

Das Regime in Teheran scheut bisher davor zurück, sich in den Gaza-Krieg direkt einzumischen. Doch das strategische Ziel der iranischen Führung ist klar: Israel soll kurzfristig geschwächt und auf lange Sicht vernichtet werden. Die US-Truppen will der Iran aus dem Nahen Osten vertreiben.  

Seit der Islamischen Revolution 1979 hat das schiitische Regime ein Hauptziel: Das Modell eines Gottesstaates soll in den gesamten Nahen Osten exportiert werden. Der Iran bestreitet zwar eine direkte Verwicklung in den Hamas-Terror. Doch er hat die Islamisten seit 2006 mit militärischer Logistik und Raketentechnologie versorgt und den Aufbau lokaler Produktionsstätten ermöglicht. Israel soll durch einen Mehrfronten-Krieg aufgerieben werden.  

Diese Zermürbungstaktik wendet Teheran auch mit Blick auf die Vereinigten Staaten an, die mehrere Flugzeugträger und Kriegsschiffe ins östliche Mittelmeer entsandt haben. Der Iran will den Rückzug der amerikanischen Einheiten erzwingen. Seine Instrumente: eine Schattenarmee schiitischer Milizen.

Die Verbände sind auf den Libanon, Irak, Syrien und den Jemen verteilt. Sie gehören alle zu der von Teheran gesteuerten „Achse des Widerstandes“ gegen Israel und die USA. Nach den Terror-Attacken der Hamas schlossen sich etliche Milizen zur Dachorganisation „Islamischer Widerstand im Irak“ zusammen. Die zunehmenden Angriffe auf amerikanische Militärbasen im Irak (fast 2500 Soldaten) und in Syrien (rund 900 Soldaten) gehen auf ihr Konto. Ihre bevorzugten Waffen sind Drohnen und Raketen, die der Iran liefert.

Eine der größten schiitischen Milizen ist die Hisbollah („Partei Gottes“) im Libanon. Sie wurde nach der Invasion Israels in den Zedernstaat 1982 gegründet und hat 30.000 bis 45.000 Kräfte. Nach Angaben westlicher Sicherheitskreise verfügt die Hisbollah über bis zu 150.000 Raketen, die zum Teil mit hochmodernen GPS-Systemen ausgestattet sind. Waffen und militärische Ausbildung kommen aus dem Iran. Angriffe auf Nordisrael sind an der Tagesordnung.

Die von Deutschland unterstützte EU-Marine-Mission im Roten Meer sei zwar defensiv ausgerichtet und strikt auf die Verteidigung der Handelsschiffe im Roten Meer verpflichtet, heißt es in Brüssel und Berlin. Riskant ist die Operation im Schattenkrieg schiitischer Milizen dennoch.

Veränderte Kriegsdynamik. Zwei Jahre nach dem Einmarsch in die Ukraine ist Russland im Vorteil.

Amerika als Helfer in der Not: Dieses jahrzehntelange Versprechen wird brüchig, es erodiert. Das bekommt an vorderster Front die Ukraine zu spüren, die sich in einer verzweifelten Abwehrschlacht den russischen Aggressoren entgegenstellt.

Vor einem Jahr war das noch anders. Die US-Vizepräsidentin Kamala Harris verkündete im Februar 2023 bei der Münchner Sicherheitskonferenz: „Die USA werden die Ukraine weiterhin unterstützen. Und wir werden dies tun, solange dies nötig ist.“ Bei der diesjährigen Sicherheitskonferenz am vergangenen Wochenende schwächte Harris ihre Zusage ab. „Sie haben klargemacht, dass Europa der Ukraine beistehen wird“, sagte sie den in München versammelten Spitzenpolitikern. „Und ich mache klar, dass Präsident Joe Biden und ich der Ukraine beistehen werden.“

Die Verpflichtung gilt also nur für den Präsidenten und seine Stellvertreterin – nicht mehr für das Land. Amerikas Funktion als Schutzmacht ist nicht mehr garantiert. Die oppositionellen Republikaner im Repräsentantenhaus blockieren ein Waffenpaket in Höhe von 60 Milliarden Dollar, auf das die Ukraine so dringend angewiesen ist. Sie können das, weil der Kongress die Budget-Hoheit hat. Knapp neun Monate vor der US-Präsidentschaftswahl gerät Russlands Angriffskrieg ins Räderwerk der Innenpolitik. Die schrille Doktrin des Kandidaten Donald Trump – „Amerika zuerst“ – übertönt alles.                        

Die Leidtragenden dieses neuen Isolationismus sind vor allem die Ukrainer. Sie gingen in dem Krieg, der sich am 24. Februar zum zweiten Mal jährt, durch ein Wechselbad der Gefühle. Nach dem Beginn der Invasion stand das Land am Abgrund. Es schien, als könnten die Russen in wenigen Tagen Präsident Wolodymyr Selenskyj aus dem Amt jagen und eine Satellitenregierung installieren. Doch die Ukrainer waren mental stark und hielten den Russen stand. Im Sommer und im Herbst 2022 gelangen ihnen sogar Durchbrüche in den Regionen Cherson und Charkiw.

Glühende Optimisten träumten von einem Vorstoß bis zum Schwarzen Meer. Doch die Anfang Juni 2023 begonnene Gegenoffensive im Süden verpuffte. Die zum Teil schleppenden Waffenlieferungen aus dem Westen verschafften Moskau einen Zeitvorteil. Die russischen Truppen konnten mehrere Verteidigungslinien errichten.

Darüber hinaus verfügen sie über schier unbegrenzte Ressourcen an Menschen und Material. Nach Angaben von Jack Watling vom Londoner Militärforschungsinstitut Rusi steigerte Russland die Größe seiner Streitkräfte in der Ukraine seit Anfang 2023 von 360.000 auf 470.000 Soldaten. Das Land betreibe eine „Kriegswirtschaft“ mit maximaler Rüstungsproduktion. Die Ukraine zählt laut der Londoner Denkfabrik International Institute for Strategic Studies (IISS) 800.000 aktive Militärs. Doch die Kräfte sind vom Dauereinsatz an der Front erschöpft. Ein Mobilisierungsgesetz, das 500.000 neue Soldaten bereitstellen soll, kam bisher nicht zustande.

Noch gravierender ist der eklatante Mangel an Munition. Nach einem Bericht der Zeitung „Kyiv Independent“ hatten Panzer der 59. Brigade bei der letzten erfolgreichen ukrainischen Offensive im Herbst 2022 noch 120 Granaten pro Tag – Ende 2023 seien es nur noch maximal 20 gewesen.

Diese Unterlegenheit erklärt, warum die Russen die Stadt Awdijiwka im Osten nach vier Monaten heftiger Kämpfe einnehmen konnten. Der Vormarsch auf Bachmut im Mai 2023 war noch ein eher symbolischer Sieg. Die Eroberung des Eisenbahnknotenpunktes Awdijiwka ist hingegen ein strategischer Erfolg, der den Russen weiteres Momentum verleihen könnte. Die Dynamik des Krieges hat sich zuungunsten der Ukraine gedreht.

Ist der Westen bereit, die Regierung in Kiew mit allen Waffen auszustatten, um sich zu behaupten? Die Angst, dass sich Putins Russland nach einer Niederlage der Ukraine ermuntert fühlen könnte, selbst Nato-Gebiet anzugreifen, ist inzwischen auch in Riga, Warschau oder Berlin angekommen. Der Satz von Bundeskanzler Olaf Scholz „Ohne Sicherheit ist alles andere nichts“ klingt wie ein politisches Glaubensbekenntnis und hat weitreichende Konsequenzen. Die innenpolitische Debatte, wie viele Milliarden Euro die Bundesrepublik künftig für die eigene Verteidigung und für die Unterstützung der Ukraine ausgeben will, muss allerdings erst noch geführt werden.        

Die zweite Zeitenwende. Europa sollte sich auf eine mögliche Trump-Präsidentschaft vorbereiten.

Angst ist ein schlechter Ratgeber – in der Politik wie im richtigen Leben. Und Panik, die kleine Schwester der Angst, sollte ebenso wenig unser Handeln bestimmen. Nüchternheit und Wachsamkeit sind viel besser. Dazu gehört auch, sich auf mögliche negative Entwicklungen vorzubereiten, Szenarien zu entwerfen.

Das trifft mit zunehmender Dringlichkeit auch auf Donald Trump zu, den aussichtsreichen republikanischen Bewerber für die US-Präsidentschaftswahl Anfang November. Der für seine Bulldozer-Rhetorik bekannte Kandidat hat jetzt wieder einmal in Europa die Alarmglocken schrillen lassen. Bei einer Wahlkampfveranstaltung im Bundesstaat South Carolina tönte Trump, der „Präsident eines großen Landes“ habe ihn einmal gefragt, ob die USA dieses Land auch dann noch vor Russland beschützen würden, wenn es die Verteidigungsausgaben nicht zahle. Er habe geantwortet: „Nein, ich würde euch nicht beschützen.“ Vielmehr noch: Er würde Russland „sogar dazu ermutigen zu tun, was auch immer zur Hölle sie wollen“. Es war dabei unklar, ob es jemals so ein Gespräch zwischen Trump und einem Staatschef gegeben hat, denn der Republikaner sagte auch: „Nehmen wir an, das ist passiert.“

Die Trumpsche Einschüchterungskulisse sorgte zwischen Paris und Warschau für blankes Entsetzen. Immerhin hatte Trump nicht nur, wie bereits 2018, mit dem Austritt aus der Nato gedroht. Die offene Komplizenschaft mit Kremlchef Wladimir Putin, dem größten Aggressor unserer Tage, ist eine neue Dimension.

Dass Trump die im Artikel 5 des Nato-Vertrages festgelegte Bündnispflicht mit Füßen tritt, ist ein wohlkalkulierter Tabu-Bruch. Dänemarks Verteidigungsminister Troels Lund Poulsen warnte, Russland könnte in drei bis fünf Jahren die Solidarität der Nato „testen“, indem es eines ihrer schwächeren Mitglieder angreift. Sogar der stets höhere Militärausgaben einfordernde Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gab sich ungewöhnlich scharf: „Jede Andeutung, dass Verbündete sich nicht verteidigen werden, untergräbt unsere gesamte Sicherheit, einschließlich der der Vereinigten Staaten, und setzt US-Soldaten und europäische Soldaten einem erhöhten Risiko aus.“

Dass Trump die Präsidentschaftswahl gewinnen könnte, galt vor einem halben Jahr noch als eher unwahrscheinlich. Doch der schwächliche Auftritt von Amtsinhaber Joe Biden sorgt für Nervosität im Westen. Der US-Sonderermittler Robert Hur bezeichnete den Präsidenten kürzlich angesichts seiner mentalen Aussetzer als „älteren Herrn mit schlechtem Gedächtnis“.  

Sollte Trump tatsächlich das Rennen machen, stehen Deutschland und Europa vor einer zweiten Zeitenwende. Nicht nur, dass die EU die Herausforderung annehmen müsste, sich mit Blick auf ein neo-imperiales Russland zu rüsten. Amerika, seit 1945 eine sichere Bank für den alten Kontinent, fiele als Schutzmacht weg.

Ulrike Malmendier, eine deutsche Ökonomin, die in den USA lehrt und die Bundesregierung als Wirtschaftsweise berät, macht sich keine Illusionen: „Wir sollten uns darauf einstellen, dass Trump in seiner zweiten Amtszeit noch extremer wird als beim ersten Mal.“ Zwischen 2017 und 2021 war der Ex-Präsident immerhin von einigen „Erwachsenen“ umgeben, die ihm die größten Schock-Szenarien wie einen Nato-Exit noch ausreden konnten. Dazu gehörten Leute wie Verteidigungsminister Jim Mattis oder die Sicherheitsberater H.R. McMaster und John Bolton.

Trumps finstere Ego-Show-Auftritte sind ein Weckruf für Europa. Doch selbst wenn Biden noch einmal die Oberhand behalten sollte, wird der Druck Washingtons auf die Europäer zunehmen, vor der eigenen Haustür – etwa in der Ukraine – für ihre Sicherheit zu sorgen.  

Die EU sollte sich schleunigst darauf vorbereiten, ihre Verteidigung in die eigene Hand zu nehmen. Die Rüstungsbeschaffung muss europäisch organisiert werden. Nationale Solonummern mit sich überlappenden Doppel-Kapazitäten sind ineffizient und passen nicht mehr in die Zeit. Das gilt auch für eine Koordination der atomaren Arsenale Frankreichs und Großbritanniens: Es bedarf eines gesamteuropäischen Nuklearschirms. Das alles braucht Zeit. Doch die Weichen müssen jetzt gestellt werden. Aus der Erfahrung des Kalten Krieges wissen wir: Nur ein starkes Militär schreckt ab. Schwäche ist hingegen eine Einladung an Aggressoren.   

Der blindwütige Krieg. Ohne politischen Ausweg wird Israels Militäreinsatz im Gazastreifen scheitern.

Wie lange noch? Fast täglich gehen die Fernsehbilder um die Welt: Menschen im Gazastreifen kauern zwischen den Trümmern kaputtgebombter Städte. Sie schlafen auf Matratzen oder in wackeligen Zelten. Brot und Wasser sind knapp und teuer. Mehr als 27.000 Palästinenser wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza im Zuge der israelischen Angriffe getötet. Fast zwei Millionen der rund 2,2 Millionen Einwohner haben ihre Heimat verloren.

Dass Israel nach den grausamen Terrorattacken der islamistischen Hamas vom 7. Oktober die Drahtzieher des Verbrechens ausschalten und die Netzwerke zerschlagen will, ist nachvollziehbar und legitim. Die Bevölkerung, deren Vorfahren durch die Hölle der Nazi-Barbarei gingen, sollte nie wieder Gräueltaten wie die der Hamas befürchten müssen, lautete die Devise. Aber wie viele zivile Opfer unter den Palästinensern will Israels Premierminister Benjamin Netanjahu noch in Kauf nehmen? Wann wird das von ihm ausgegebene Kriegsziel – die totale Eliminierung der Hamas – wegen der hohen Zahl der Toten am Ende moralisch diskreditiert?

Vier Monate nach dem Tag der Schande sind die Islamisten noch immer nicht besiegt. Sogar im Norden des Gazastreifens, den das israelische Militär angeblich wieder völlig kontrolliert, flammen erneut Guerilla-Angriffe der Hamas auf. Die Terroristen tragen oft keine Uniform, sondern zivile Kleidung und sind nur schwer auszumachen. Ein weitverzweigtes Tunnel- und Schachtsystem bietet ihnen eine Vielzahl an Rückzugsorten.

Trotzdem lässt Netanjahu immer weiter bomben. Für die Palästinenser gibt es keinen sicheren Platz mehr im Gazastreifen. Die internationalen Hilfslieferungen stocken. Immer mehr Krankenhäuser müssen die Versorgung von Patienten einstellen. Die Küstenenklave am Mittelmeer droht zu einem apokalyptischen Ort der Zerstörung zu werden. Israels Regierungschef befeuert einen blindwütigen Krieg, ohne Maß und ohne einen Funken Empathie für die Opfer.   

General Frank McKenzie, ehemaliger Chef des US-Zentralkommandos (CENTCOM), zieht eine schonungslose Bilanz des bisherigen Militäreinsatzes. Der Erfolg der Israelis sei „sehr begrenzt“, sagte er dem amerikanischen TV-Sender CBS. „Als sie in den Gazastreifen einmarschierten, haben sie sich zum Ziel gesetzt, die politische und militärische Führung der Hamas zu beseitigen. Bis heute haben sie weder das eine noch das andere erreicht.“ Der israelischen Regierung fehle eine Idee für die Zeit nach dem Krieg. „Wenn man eine Militäroperation beginnt, braucht man eine Vision vom Endzustand. Alles, was man dann tut, vermindert oder vergrößert die Fähigkeit, an diesen Punkt zu gelangen.“

Es ist ein Fiasko, dass es Jerusalem an einer politischen Strategie jenseits des rein militärischen Denkens mangelt. Netanjahu ist Gefangener seiner Fundamental-Kategorien. Sie lauten: totale Auslöschung der Hamas, Endsieg, unbegrenzter Ausbau jüdischer Siedlungen im Westjordanland und möglicherweise künftig auch im Gazastreifen, kein unabhängiger entmilitarisierter Palästinenserstaat.  

Es gibt in Israel politische Beobachter, die das Narrativ verbreiten, Netanjahu setze auf einen hemmungslosen Kurs der Eskalation, um seine Haut zu retten. Sie stützen ihre These darauf, dass der Premier sein Amt verlieren werde, wenn der Krieg vorbei sei. Dann beginne die politische Abrechnung über das Versagen der Führung bei der Antizipation des Horrors vom 7. Oktober. Zudem droht Netanjahu vor Gericht die Verurteilung wegen Bestechlichkeit, Betrug und Untreue. Es wäre fatal, wenn der Ministerpräsident Krieg führen würde, weil er seine persönlichen Interessen über das Wohlergehen des Landes stellt.     

Die Amerikaner machen Druck auf Israel. Ihre Hebel: die Erlaubnis zu mehr humanitärer Hilfe für die geplagte Bevölkerung im Gazastreifen, eine Feuerpause zur Freilassung der israelischen Geiseln auf der einen und der palästinensischen Gefangenen in Israel auf der anderen Seite, eine Waffenruhe als Brücke für einen Gesprächsprozess auf dem Weg zu einem Palästinenser-Staat. Dieser Plan wird von Katar und Ägypten unterstützt. Möglicherweise lässt sich auch die Öl-Großmacht Saudi-Arabien einbinden. Fest steht bereits heute: Ohne eine politische Perspektive wird Israels Militäraktion im Gazastreifen scheitern. 

Pazifismus wäre naiv. Der Westen muss die Ukraine weiter unterstützen – auch aus eigenem Interesse.

Wenn man heute im Westen auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine blickt, drängt sich ein Begriff auf: Desillusionierung. Das trifft auch auf die Ukraine selbst zu. „Die Menschen sind erschöpft“, räumte Präsident Wolodymyr Selenskyj im Interview mit ARD-Talkerin Caren Miosga ein.

Die Euphorie und der Traum vom schnellen Durchbruch aus dem Jahr 2022 haben sich verflüchtigt. Im Juli war es den ukrainischen Truppen gelungen, die Russen bei Cherson zurückzudrängen. Im darauffolgenden September befreiten sie die Stadt Charkiw im Osten. Doch die mit großen Hoffnungen angekündigte Gegenoffensive verpuffte: Sie begann Anfang Juni 2023 und mündete in einen für beide Seiten verlustreichen Stellungskrieg. Die Russen gruben sich entlang der Front ein und errichteten mehrere Verteidigungslinien. Der Vormarsch der Ukrainer kam ins Stocken.

Der Stillstand der ukrainischen Verbände liegt auch am spärlicher werdenden Waffenfluss aus dem Westen. Derzeit fehlt es vor allem an Munition. Die EU-Länder hatten versprochen, bis März 2024 eine Million Schuss zu liefern, angekommen sind gerade einmal 300.000. Ergebnis: Die Ukrainer können keine Angriffe mehr starten und rationieren ihre Munition für die Verteidigung gegen russische Vorstöße.

Darüber hinaus hat die Sanktionskeule des Westens nicht die erhoffte Wirkung gezeigt. Die russische Wirtschaft ist nicht in die Knie gegangen. Präsident Wladimir Putin hat die Unternehmen auf Kriegs-Produktion getrimmt. Länder wie China und Indien kaufen gerne russisches Öl und Gas, Importe aus Drittstaaten kommen oft über die Türkei.    

Am beunruhigendsten sind jedoch die Signale aus Washington. Ein von US-Präsident Joe Biden aufgelegtes Rüstungsprogramm für Kiew in Höhe von 60 Milliarden Dollar wird von den Republikanern im Kongress blockiert. Biden hatte zuvor ein Triple-Paket aus Ukraine- und Israel-Hilfen sowie mehr Grenzschutz gegen Flüchtlinge aus Mexiko angeboten – Letzteres war als Zugeständnis an die Republikaner gedacht. Doch der mutmaßliche republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump legte sich quer. Seine Partei folgt ihm bedingungslos auf seinem Obstruktions-Kurs. Biden soll im Wahljahr keinen Triumph bekommen, lautet die Marschroute.

Putin weiß, dass es um die Ukraine nicht gut steht. Er hat einen langen Atem, setzt auf die Kriegsmüdigkeit im Westen. Und er hofft, dass Trump ins Weiße Haus einzieht. Dieser hatte bereits den Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine angedeutet und Selenskyj den Verzicht auf Territorium empfohlen.

Im Westen taucht immer wieder die Forderung auf, die Ukraine müsse nur mit Russland verhandeln – und der Krieg sei vorbei. Derartige Friedensschalmeien ertönen in Deutschland vor allem aus der AfD, aus der neuen Partei Bündnis Sahra Wagenknecht und aus der Linken.

Ein solcher Pazifismus wäre naiv. Die Ukraine darf nicht zu früh Konzessionen machen. „Damit würde man einem Aggressor wie Putin signalisieren, du kannst noch weitergehen“, warnt der Historiker Jörn Leonhard. Beim Ukraine-Krieg gehe es um eine Auseinandersetzung zwischen rücksichtsloser russischer Machtpolitik und dem westlichen Konzept von Demokratie und Wahlfreiheit. „Der Verlust des Imperiums hat eine Art von Phantomschmerz hinterlassen. Und dazu gehört die Idee einer besonderen Mission Russlands“, betont Leonhard. „Das begründet den Gegensatz zu den freiheitlichen Werten des Westens, die Putin für überholt und dekadent hält.“

In den Spitzen der deutschen Politik ist die Bedrohung angekommen. „Wir müssen also einkalkulieren, dass Putin eines Tages sogar ein Nato-Land angreift“, mahnt Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). „Unsere Experten rechnen mit einem Zeitraum von fünf bis acht Jahren, in denen das möglich sein könnte.“ 

Ja, die Unterstützung der Ukraine ist teuer, kräfteraubend und mit Rückschlägen verbunden. Sie kann sich zu einem Marathon-Krieg ausweiten. Doch wenn Putin nicht gestoppt wird, sind in Europa Rechtstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Freiheit in Gefahr. Das betrifft zunächst die baltischen Staaten und Polen. Nur wenn der russische Präsident seine Kriegsziele nicht erreicht – was nichts anderes wäre als eine Niederlage –, ist der Westen hinreichend sicher. Das und nichts weniger steht in der Ukraine auf dem Spiel.

Risikofaktor Kriegsmüdigkeit. In den USA und in Europa gibt es Anzeichen für eine Erosion der Ukraine-Hilfe.

Sichere Bank Amerika? Bislang waren die Vereinigten Staaten die Überlebens-Garantie für die Ukraine. Bereits kurz nach Beginn der russischen Invasion begann Washington mit der Lieferung von Javelin-Panzerabwehrraketen, schultergestützten Stinger-Flugabwehrraketen, Schusswaffen und Munition. Es folgten Himars-Mehrfachraketenwerfer und das Flugabwehrraketensystem Patriot. Militärgüter im Wert von 43 Milliarden Dollar wurden bis dato zugesagt oder verschickt.  

Auf Präsident Joe Biden konnte der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj lange Zeit bauen. Doch nun liegen Schatten über der Verlässlichkeit der Schutzmacht. 

Der Grund: Die Ukraine-Hilfe geriet in den Mahlstrom der amerikanischen Innenpolitik. Am vergangenen Wochenende konnte nur im letzten Moment eine Haushaltssperre der Regierung verhindert werden. Ein Teil der Republikaner, die im Repräsentantenhaus eine knappe Mehrheit haben, stimmte dem Etat-Kompromiss nur zu, weil darin keine Finanzspritze für Kiew enthalten war. Für sie gilt der Leitspruch „Erst die USA, dann die Ukraine“. Laut Verfassung hat der aus Repräsentantenhaus und Senat bestehende Kongress die Budget-Hoheit. 

Der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, brauchte allerdings für die Einigung eine große Zahl demokratischer Abgeordneter. Dies gelang ihm nur, weil er die Forderungen der rechten Hardliner unter den Republikanern – etwa drastische Sozialkürzungen oder die Verschärfung der Grenzkontrollen Richtung Mexiko – fallen ließ. Für die Demokraten war dies Priorität Nummer eins.

Die Last-Minute-Übereinkunft steht jedoch auf schwachen Füßen. Sie bietet nur eine Zwischenfinanzierung für die nächsten 45 Tage. Gibt es jedoch bis Mitte November keinen Deal über die zwölf einzelnen Haushaltsgesetze für das kommende Jahr, kann das Drama wieder von vorne losgehen. Auch ein Shutdown wäre dann immer noch möglich.

Weiterer Unsicherheitsfaktor:  McCarthy verfügt über wenig Rückhalt in der eigenen Partei. Er wurde im Januar erst nach 15 Wahlgängen zum Sprecher des Repräsentantenhauses gewählt – der rechte Flügel der Republikaner hatte sich immer wieder quergelegt. Dass es McCarthy auf den letzten Drücker doch noch schaffte, lag auch daran, dass Ex-Präsident Donald Trump für ihn getrommelt hatte. McCarthy musste jedoch akzeptieren, dass jeder Abgeordnete künftig seine Abwahl beantragen kann. Versagen ihm fünf Republikaner die Gefolgschaft und stimmen die Demokraten geschlossen gegen ihn, ist er seinen Job los.   

McCarthys innerparteiliches Autoritätsproblem macht ihn angreifbar. Er kann es sich nicht leisten, den rechten Rand seiner Partei zu verprellen. Die entscheidende Frage wird sein, wie hoch der Druck des Rechtsaußen-Lagers für einen Stopp der Ukraine-Hilfe sein wird. Bereits heute ist McCarthy Geisel dieser Gruppierung. Die Kontroversen über dieses Thema werden dramatisch zunehmen, wenn der US-Präsidentschaftswahlkampf erst richtig Fahrt aufnimmt. Unter allen republikanischen Kandidaten ist die Unterstützung für die Ukraine unpopulär. 

Das Risiko von Kriegsmüdigkeit und Aufwallungen nationalistischer Politik besteht jedoch nicht nur in Amerika. Auch Europa ist davor nicht gefeit. Der Wahlsieg des Linkspopulisten Robert Fico im EU- und Nato-Land Slowakei darf als Warnschuss begriffen werden. Der Putin-Freund hatte angekündigt, die Fortsetzung der Russland-Sanktionen zu blockieren und die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen. Ob er dies durchboxen kann, hängt auch von der Zusammensetzung seiner Koalition ab. Nach Ungarn unter Viktor Orbán droht nun auch die Slowakei unter Fico in einen pro-russischen Kurs abzugleiten – ein Belastungstest für die EU.  

Die Schlüsselfrage ist nun, wie nachhaltig die Gesellschaften in den USA und Europa hinter der Ukraine stehen. Erosionen sind hier wie dort sichtbar. Auch in Deutschland könnte die Solidarität mit Kiew untergraben werden: vor allem dann, wenn die AfD weiter zulegt und einer neuen Partei rund um die ehemalige Links-Ikone Sahra Wagenknecht ein Blitz-Start gelingt.

Auf derartige Entwicklungen setzt Kremlchef Wladimir Putin. Seine Maxime lautet: Der Westen ist schwach; Autokratien haben mit ihrer repressiven Kraft den längeren Atem. Es wäre fatal, wenn er damit durchkäme.